Veranstaltung: | 60. Landesversammlung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen am 7.12.2024 in Chemnitz |
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Tagesordnungspunkt: | 14. Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesversammlung |
Beschlossen am: | 07.12.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Geschlechtergerechte Lausitz: Für einen feministischen und intersektionalen Strukturwandel als Modell
Beschlusstext
Strukturwandel in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier muss so gestaltet
werden, dass er für alle gerecht ist und dass aus den (ehemaligen) Kohleregionen
auch wirklich Zukunftsregionen werden können. Fest steht: Die Region steckt
mitten in einer tiefgreifenden Veränderung: wirtschaftlich, sozial und mit Blick
auf die Infrastruktur. Alle Bereiche der Gesellschaft sind betroffen:
Arbeitsplätze, Wohnraum, öffentlicher Nahverkehr, Kitaplätze, aber auch Kunst,
Kultur, Zivilgesellschaft.
Das ist eine Herausforderung, erst recht in einer Zeit, die sich für die
Menschen ohnehin schon unsicher anfühlt. Es ist aber auch eine Riesenchance:
Denn jetzt können wir politisch und wirtschaftlich die Weichen stellen, dass
hier zu leben auch in Zukunft wirtschaftlich, sozial, demographisch und
kulturell den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Wichtig ist, und nur dann
ist es nachhaltig, dass alle von den Strukturwandelmaßnahmen profitieren und
dass es gerecht für alle, insbesondere auch für strukturell benachteiligte
Gruppen, ist. Gleichwertige Lebensverhältnisse, wie sie als Staatsziel im
Grundgesetz formuliert sind, sind besonders in Transformationsprozessen die
Zielstellung. Dafür muss auch und vor allem eine Geschlechtergerechtigkeits-
Perspektive eingenommen werden.
Die Art, wie Strukturwandelprojekte aktuell konzipiert, ausgewählt und umgesetzt
werden, dient nicht dazu Geschlechtergerechtigkeit voranzubringen. Die
öffentlichen Gelder für den Strukturwandel kommen häufig bei Frauen, trans*,
inter* und nicht-binären Personen nicht an. Bei der Vergabe von Fördermitteln
werden ihre Interessen nicht ausreichend beachtet. Und das, obwohl nach InvKG
Artikel 1 §4 Abs. 3 bei den geförderten Vorhaben sowohl die demografische
Entwicklung als auch die Nachhaltigkeitsziele im Rahmen der Deutschen
Nachhaltigkeitsstrategie berücksichtigt werden sollen.
Dabei können wir uns die fehlende Geschlechter- und Diversitätsperspektive gar
nicht leisten. Viele, vor allem gut ausgebildete Frauen, wandern bereits heute
aus der Region ab, oder kommen nach der Ausbildung nicht zurück. Gleiches
beobachten wir auch für queere Menschen. Insbesondere die zurückkehrenden Frauen
arbeiten in Jobs, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Eine
Wirtschaftsförderung, die nur traditionelle Jobs im Bergbau und in der Industrie
schafft, ist zu einseitig. So geht Innovationspotenzial verloren.
Überspitzt formuliert ist die Lausitz ein demographisches Katastrophengebiet.
Diese Dynamik wird sich nicht mehr umfänglich aufhalten lassen, daher ist es
umso wichtiger, die Frage zu adressieren, wie umfassende
Geschlechtergerechtigkeit in diesem Ungleichgewicht hergestellt werden kann. Die
Frage von Zuzug und Neuansiedlungen in der Lausitz wird hier entscheidend sein.
Dafür braucht es den Abbau strukturellen Defiziten in der Arbeitswelt
insbesondere die Förderung von Akzeptanz und Vielfalt am Arbeitsplatz, durch
Gleichstellungs- und Diversity-Management-Strukturen in Betrieben, Belegschaften
vor allem aber übergreifend durch regionale Kammern und Innungen, welche ihrer
Schlüsselrolle dafür gerecht werden müssen! Für die Förderung von umfassender
Geschlechtergerechtigkeit wollen wir die Aufwertung und bessere Anerkennung von
Sorge-Arbeit erreichen, welche in einer immer älter werdenden Gesellschaft mit
zu wenigen Kindern deutlich mehr Wertschätzung erfahren muss.
Ohne sichere Zukunftsaussichten wird die Familienplanung junger Menschen
erschwert. Die Gesellschaft überaltert. Es fehlt an kulturellen und
gemeinwohlorientierten Angeboten, Möglichkeiten zur Vernetzung sowie
Beratungsstrukturen, die das Leben in der Region insgesamt attraktiver machen.
Frauen, trans*, inter* und nicht-binäre Personen
sind unverzichtbare Träger*innen von Vereinen, Demokratieprojekten oder CSDs.
Ihr Wegzug bedeutet daher eine Schwächung der Zivilgesellschaft. Das kann dazu
führen, dass Demokratie- und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie etwa
Rassismus, Antisemitismus oder Queerfeindlichkeit weiter ausbreiten und sich die
Abwanderung weiter verstärk.
Wichtig ist, mithilfe einer feministischen und intersektionalen Perspektive den
Blick auch auf andere benachteiligte Gruppen zu richten. Die beschriebenen
Effekte von Ungleichheit wirken sich auch auf die Lebensrealität von
armutsbetroffenen Menschen, Menschen mit Migrationsbiographie, Alleinerziehende,
Menschen mit Behinderungen, queere Menschen sowie Kinder und Jugendliche aus.
Besonders zu berücksichtigen ist in der Lausitz auch das sorbische Volk, da der
Kohleabbau für die Sorb:innen tiefe Narben hinterlassen hat. Der expansive
Kohleabbau bedeutete in der Region, dass Dörfer verschwanden, und damit
Gemeinschaft, Kultur und Sprache verloren gegangen sind.
Die beschriebenen strukturellen Ungleichheiten lassen sich nur mit einem
Strukturwandel auflösen, der alle Menschen in den Blick nimmt. Denn mit diesem
Blickwinkel können die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur auf eine Weise
weiterentwickelt werden, die die strukturellen Ungleichheiten benachteiligter
Gruppen und die unterschiedlichen Lebensrealitäten aller Geschlechter mitdenkt.
Nur ein feministischer und intersektionaler Ansatz im Strukturwandel bringt
umfassende soziale Gerechtigkeit, indem er sich bewusst für die Entwicklung
nachhaltiger Lebenschancen für alle in der Region einsetzt. Ohne eine starke
feministische und intersektionale Perspektive der umfassenden Gleichstellung auf
Strukturwandelprojekte wird es in dieser Transformation keine
Geschlechtergerechtigkeit geben und der Strukturwandel in der Lausitz nicht
gelingen.
Die vielfältigen Fraueninitiativen in der Lausitz, das Bündnis der kommunalen
Gleichstellungsbeauftragten der Lausitz und das Netzwerk „F wie Kraft“, die
bereits Pionierarbeit im Themenfeld Gleichstellung und Strukturwandel geleistet
haben, sowie die Umlandberatung des Gerede e. V. und die lokalen CSDs, etwa in
Görlitz und Bautzen, unterstützen wir ausdrücklich und fordern die stabile
Finanzierung ihrer Aufgaben.
Die folgenden Forderungen greifen Ideen und Vorarbeit des Bündnisses auf:
Um Strukturwandel in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier zukünftig sozial
gerecht zu gestalten, fordern wir
Institutionen und Gremien, die Entscheidungen über die Vergabe von
Strukturwandelfördermitteln im Rahmen des Strukturstärkungsgesetzes
treffen, paritätisch zu besetzen, um zu gewährleisten, dass die Vergabe
von Fördergeldern geschlechtersensibel verläuft.
Dafür braucht es die Verbesserung der Rahmenbedingungen der politischen
Arbeit, insbesondere in der ehrenamtlichen Kommunalpolitik, damit sie für
alle Geschlechter und alle Altersgruppen, sowie durch Mitglieder
unterrepräsentierter Gruppen möglich ist.
Gleichstellungsaspekte bei der Haushaltsplanung zu berücksichtigen (Gender
Budgeting) und die Vergabe von Strukturfördermitteln neben ökologischen
auch an Kriterien der Förderung von Geschlechter- und sozialer
Gerechtigkeit zu koppeln (bei der STARK-Richtlinie gibt es etwa die neue
Möglichkeit, auch Unternehmen zu fördern). Dies gilt auch für zukünftige
Förderprogramme von Land, Bund und Europäischer Union – sie müssen so
eingesetzt werden, dass sie feministischen und intersektionalen Kriterien
genügen. Bei Gesetzgebungsprozessen müssen die unterschiedlichen
Auswirkungen auf Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten in
den Blick (Gender Mainstreaming) genommen und evaluiert werden.
die Einrichtung einer Fachstelle Geschlechtergerechtigkeit in der Lausitz,
die die Aufgaben Monitoring, Beratung, Wissensbündelung, Evaluierung sowie
den Aufbau von Unterstützungsstrukturen und Beratung für die Akteur:innen
vor Ort hat und eigenständig in der Region arbeiten kann. Für eine solide
Evaluierung braucht es Daten: Gleichstellungsfragen müssen bei Evaluation
und Monitoring Teil des Indikatorensets sein.
Dabei sind auch Geschlechtsidentitäten jenseits der Binarität von Frau
und Mann zu berücksichtigen.
Möglichkeiten von Partizipation und Einspruchsmöglichkeiten bei der
Strukturmittelvergabe für die Zivilgesellschaft zu schaffen; dafür müssen
Informationen verständlich, zugänglich und transparent sein und
niederschwellige Beteiligungsformate angeboten werden.
die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten weiter zu stärken und sie mit
echten Handlungs- und Entscheidungskompetenzen auszustatten; bereits
vorhandene Strukturen, die von Frauen, trans*, inter* und nicht-binären
Personen aufgebaut wurden (wie z.B. das Bündnis der kommunalen
Gleichstellungsbeauftragten der Lausitz), müssen bei der strukturellen
Organisation von Ressourcenflüssen eng in Entscheidungsprozesse
eingebunden werden.
sich auf kommunaler und Landesebenen für Bleibe- und Rückkehrperspektiven
in der Region einzusetzen; dafür braucht es gut bezahlte und flexible und
diskriminierungsfreie Arbeitsplätze, die die Vereinbarkeit von Familie,
Beruf und Ehrenamt ermöglichen, und eine gute Daseinsvorsorge mit
bezahlbarem Wohnraum mit ausreichenden Angeboten der Kinderbetreuung,
Pflege, Bildung und Weiterbildung, geschlechtersensibler
Gesundheitsversorgung auch für trans*, inter* und nicht-binäre Menschen,
Freizeitgestaltung, Kultur und Engagement. Auch eine Willkommenskultur für
Zugezogene gehört dazu, welche wir durch den gezielten Abbau
diskriminierender Strukturen und Empowerment von Vielfalt fördern wollen.
- den Abbau geschlechterstereotyper Berufswahl durch eine gezielte MINT-
Förderung von Frauen- und Mädchen (also die Tätigkeit in Mathematik,
Ingenieur-, Naturwissenschaften oder Technik) sowie geschlechtersensible
Berufsorientierung, sodass junge Menschen anhand ihrer Interessen und
Talente entscheiden und vorherrschende Rollenbilder überwinden können.
Überdies fordern wir wohnortnahe Ausbildungsmöglichkeiten, welche einen
Verbleib junger Menschen in der Region fördern.
- Investitionen in den öffentlichen Dienst, insbesondere im akademisierten
Bereich. Solche Stellen sind für Frauen besonders attraktiv, sodass sie
hier überdurchschnittlich profitieren. Dazu braucht es die konsequente
Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes für den öffentlichen Dienst, um ein
Vorbild für gute Gleichstellung für alle Tätigkeitsbereiche Bereiche der
Gesellschaft zu sein.
sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Gesundheit und Pflege
einzusetzen – hier ist der Anteil von Frauen und Menschen mit
Migrationsgeschichte besonders hoch und sie leisten einen unerlässlichen
Beitrag zur gesundheitlichen Versorgung im ländlichen Raum. Dabei denken
wir auch an die vielen Menschen, die meist von ihren weiblichen
Angehörigen zuhause gepflegt werden und wollen sie in ihrer wichtigen
Arbeit gezielt unterstützen, Beratung anbieten und Hilfe-Netzwerke
fördern.
gezielt Infrastrukturprojekte zu fördern, die die Bedürfnisse von Frauen,
trans*, inter* und nicht-binären Personen sowie weiteren benachteiligten
Gruppen – z.B. Kindern, älteren Menschen oder Menschen mit Behinderungen –
in den Vordergrund stellen, u.a. durch den Ausbau des ÖPNV („letzte
Meile“, Schulbusverkehr, barrierefreier Ausbau der Verkehrsinfrastruktur,
gut beleuchtete Haltestellen und Heimwege). Hier setzen wir uns besonders
für attraktive Pendel-Verbindungen ein, z.B. durch die vollständige
Elektrifizierung der Bahnstrecken zwischen Dresden und Kamenz, sowie
Görlitz, weil deutlich leistungsfähigere, komfortablere Pendel-
Verbindungen, zusammen mit der Versorgung mit Glasfaser-Anschlüssen im
Homeoffice, den beruflich bedingten Wegzug aus der Region entgegenwirken.
Akteur:innen, Bündnisse und Netzwerke vor Ort, die sich
zivilgesellschaftlich, z.B. in Demokratieprojekten engagieren, besser zu
unterstützen. Das ist unerlässlich, um zum einen antidemokratische,
antifeministische und queerfeindliche Bestrebungen zu bekämpfen, und zum
anderen ist Ehrenamt auch ein regionaler Attraktivitätsfaktor: Wer sich
engagiert, bleibt. Deshalb setzen wir uns nachdrücklich für eine
gesicherte Finanzierung zivilgesellschaftlichen Engagements ein.